Queere Identität - Freiheit des Geistes
Avatar von Robert Kiesinger

Wer sagt mir, wer ich bin?
Queere Identität zwischen Selbstfindung und sozialer Suggestion – eine existenzanalytische Perspektive

Immer mehr Jugendliche beschäftigen sich heute intensiv mit Fragen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität – oft früher und öffentlicher als noch vor einigen Jahren. Viele bezeichnen sich als queer, nicht-binär, pansexuell oder genderfluid. Während manche dies als Befreiung von alten Schubladen erleben, verunsichert es andere.

Als Therapeut stehe ich vor einer besonderen Aufgabe: Wie begleitet man junge Menschen auf diesem Weg, ohne Antworten vorzugeben? Die Logotherapie und Existenzanalyse bieten hier einen wertvollen Rahmen. Es geht nicht darum, Identitäten zu bestätigen oder zu korrigieren, sondern Räume zu schaffen, in denen Jugendliche ihre eigene Stimme entdecken können.

Identität im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Druck

Früher wurden Identitäten oft durch Herkunft oder Tradition vorgegeben. Heute müssen Jugendliche sie selbst finden – in einer Welt voller Wahlmöglichkeiten, aber auch voller Erwartungen. Begriffe wie „queer“ können Halt geben, weil sie Zugehörigkeit und Sprache bieten. Doch wenn eine Identität nur von außen übernommen wird, ohne innerlich durchlebt zu sein, kann sie auch fremd bleiben.

Identität als lebendiger Prozess

Aus existenzanalytischer Sicht ist Identität nichts Statisches. Wir werden nicht einfach das, was wir sagen, sondern das, wozu wir uns im Dialog mit der Welt entscheiden. Die Frage „Wer bin ich?“ wandelt sich dann in: „Wie will ich auf das Leben antworten?“ Gerade Jugendliche brauchen Unterstützung, um diese Antwort in Freiheit – und nicht unter Druck – zu finden.

Die Verantwortung der Therapie: Begleiten, nicht lenken

Eine der schwierigsten Aufgaben in der Therapie ist es, einfühlsame Begleitung von subtiler Beeinflussung zu unterscheiden. Auch gut gemeinte Bestätigung kann manipulativ wirken, wenn sie die eigene Auseinandersetzung erspart. Es geht nicht darum, Identitäten zu bewerten, sondern Jugendlichen zu helfen, ihren inneren Impulsen zu vertrauen – selbst wenn diese noch unklar sind.

Ein Raum für unfertige Fragen

Viele junge Menschen suchen keine Definition, sondern das Gefühl, gesehen zu werden. Sätze wie „Ich will einfach, dass mich jemand anschaut und sagt: ‚Ich sehe dich’“ zeigen, wie tief dieses Bedürfnis ist. Therapeuten und Therapeutinnen können hier eine Haltung des „Nicht-Wissens“ einnehmen: nicht aus Unsicherheit, sondern aus Respekt vor dem individuellen Prozess. Manchmal ist es heilsamer, keine Antwort zu geben, sondern geduldig zu warten, bis sie aus dem Jugendlichen selbst erwächst.

Queer sein als Suche, nicht als Schublade

Wenn wir „queer“ nicht als festes Label, sondern als Ausdruck einer Suche verstehen, wird es zu einer existenziellen Haltung: ein Dazwischen, ein Noch-nicht-Festgelegt-Sein. Die entscheidende Frage ist nicht, ob eine Identität „richtig“ ist, sondern ob sie dem Leben jedes Einzelnen gerade gerecht wird. Hier zeigt sich die Freiheit des Menschen: Wir sind nicht unsere Rollen, sondern wir können uns zu ihnen in Beziehung setzen.

Entscheidung, Einfluss oder innere Wahrheit?

Oft wird diskutiert, ob queere Identitäten eine freie Wahl, ein sozialer Trend oder ein inneres Wissen sind. Doch diese Unterscheidung greift zu kurz. Die meisten Menschen erleben ihr Queersein nicht als bewusste Entscheidung, sondern als etwas, das sich in ihnen meldet – und das sie erst nach und nach verstehen. Gleichzeitig prägen Medien und Gesellschaft die Sprache, in der sie sich ausdrücken. Wichtig ist, dass Jugendliche erleben: Ich darf suchen. Ich darf mich verändern. Ich muss mich nicht festlegen.

Der Körper als Ort der Identität

Identität spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern auch im Körper. Für viele queere Menschen ist der Leib nicht einfach „gegeben“, sondern ein Raum des Erlebens – manchmal der Stimmigkeit, manchmal des Fremdseins. Die Therapie kann helfen, diese Erfahrungen ohne Druck zu erkunden.

Identität braucht Zeit

Was heute wie eine feste Überzeugung wirkt, kann morgen schon anders gefühlt werden. Besonders Jugendliche durchleben Phasen der Unsicherheit und Neuorientierung. Therapie sollte diesen Prozess schützen, statt vorschnelle Klarheit zu verlangen.

Der Blick der anderen

Identität entsteht nie im luftleeren Raum. Wie andere uns sehen – mit Anerkennung, Abwertung oder Erwartungen – prägt uns tief. Queere Jugendliche erleben oft einen Konflikt zwischen dem, wer sie sind, und dem, was die Welt von ihnen will. In der Therapie kann es darum gehen, diesen sozialen Spiegel zu verstehen – ohne sich ihm auszuliefern.

Sprache: Werkzeug oder Falle?

Begriffe wie „queer“ können empowern, aber auch einschränken, wenn sie zum starren Skript werden. Die Herausforderung ist, Sprache zu nutzen, ohne sich von ihr definieren zu lassen.

Sinn jenseits der Identität

Am Ende geht es nicht nur um die Frage „Wer bin ich?“, sondern auch um „Wozu lebe ich?“. Queeres Sein kann Teil einer größeren Suche sein – nach Verbindung, Wahrhaftigkeit oder einem Platz in der Welt. Vielleicht ist Identität nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt.

Freiheit zur eigenen Stimme

Die Begleitung queerer Jugendlicher erfordert Feingefühl – für ihre Sprache, ihre Entwicklung und ihre Freiheit. Die Logotherapie erinnert daran, dass der Mensch mehr ist als seine Labels. Im Kern geht es nicht um Anpassung, sondern um die Würde, sich selbst zu entdecken.

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