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Was ist ADHS? Ein Leitfaden für Eltern

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivität) ist eine neurobiologische Variante der Informationsverarbeitung, die sich durch andere Muster der Aufmerksamkeit, Impulssteuerung und motorischen Aktivität auszeichnet. Menschen mit ADHS nehmen und verarbeiten ihre Umwelt anders wahr. Sie sind oft intensiver, kreativer und haben einen anderen Rhythmus als neurotypische Menschen. Bei etwa 3-7% der Kinder und 2,5% der Erwachsenen zeigt sich diese neurobiologische Besonderheit.

Problematisch wird ADHS meist nicht durch die Besonderheit selbst, sondern durch gesellschaftliche Strukturen und Erwartungen, die diese Art der Wahrnehmung nicht berücksichtigen. Wenn Schulsysteme, Arbeitswelten oder soziale Umfelder ausschließlich auf neurotypische Funktionsweisen ausgelegt sind, entstehen Stress, Überforderung und sekundäre psychische Belastungen.

Es ist wichtig zu verstehen: ADHS ist keine „Erziehungssache“ oder „Charakterschwäche“. Die neurobiologische Variante selbst ist nicht behandlungsbedürftig. Behandelt werden die Folgeprobleme, wie vermindertes Selbstwertgefühl, Anpassungsstörungen oder Stress, die durch unpassende Umweltanforderungen entstehen können.

Unterschied zwischen ADHS und ADS

ADHS steht ursprünglich für „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“, ein Begriff aus der Zeit, als diese neurobiologische Besonderheit noch als Krankheit betrachtet wurde. Heute verstehen wir ADHS als Spektrum verschiedener Ausprägungen der Informationsverarbeitung. ADS beschreibt eine Variante ohne ausgeprägte Hyperaktivität und wird oft als „introvertiertes ADHS“ bezeichnet.

Beide Formen gehören zum gleichen neurobiologischen Spektrum, zeigen jedoch unterschiedliche Charakteristika:

ADHS mit Hyperaktivität:

  • Hohe körperliche Aktivität und Bewegungsdrang
  • Spontanes, impulsives Handeln
  • Oft sehr lebendige, energiegeladene Persönlichkeit
  • In starren Strukturen häufiger als „auffällig“ wahrgenommen

ADS (ohne Hyperaktivität):

  • Intensive innere Gedankenwelt („Tagträumen“)
  • Ruhigere, nachdenkliche Art
  • Tiefe Konzentrationsfähigkeit bei interessanten Themen
  • Wird oft übersehen, da weniger „störend“ für andere

Wichtig: Beide Varianten haben ihre eigenen Stärken und Herausforderungen. Problematisch wird es erst, wenn die Umwelt diese unterschiedlichen Funktionsweisen nicht respektiert oder unterstützt.

Neurobiologie von ADHS

Die aktuelle Forschung hat verschiedene neurobiologische und genetische Faktoren identifiziert, die mit ADHS assoziiert sind.

Genetische Faktoren: Zwillings- und Familienstudien zeigen eine Erblichkeit von etwa 70-80% für ADHS. Genomweite Assoziationsstudien haben mehrere Genvarianten identifiziert, die mit ADHS korrelieren, insbesondere solche, die Dopamin- und Noradrenalin-Signalwege beeinflussen.

Neurobiologische Befunde: Bildgebende Verfahren (fMRT, PET) dokumentieren messbare Unterschiede in Gehirnstruktur und -funktion bei Menschen mit ADHS. Betroffen sind vor allem präfrontale Cortex-Bereiche, das Striatum und Verbindungen zwischen diesen Regionen. Neurochemisch zeigen sich Unterschiede in der Dopamin- und Noradrenalin-Regulation.

Entwicklungseinflüsse: Epidemiologische Studien haben verschiedene pränatale und perinatale Risikofaktoren identifiziert: mütterlicher Alkohol- oder Nikotinkonsum während der Schwangerschaft, Frühgeburt, niedriges Geburtsgewicht und schwere psychosoziale Belastungen in der frühen Kindheit.

Wichtig: Diese Faktoren erklären die Entstehung von ADHS-Merkmalen, nicht deren klinische Bedeutung oder Behandlungsbedürftigkeit. Die Bewertung als „Störung“ hängt vom Kontext und den daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen ab.

Merkmale von ADHS

Die Merkmale von ADHS können je nach Alter und Individuum erheblich variieren. Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien (DSM-5, ICD-11) lassen sich drei Hauptbereiche unterscheiden:

Aufmerksamkeitsregulation:

  • Schwierigkeiten bei der selektiven Aufmerksamkeit in reizarmen Umgebungen
  • Probleme beim Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit bei wenig stimulierenden Aufgaben
  • Häufiges Vergessen von Routinetätigkeiten und Terminen

Hyperaktivität:

  • Erhöhte motorische Aktivität und Bewegungsdrang
  • Schwierigkeiten, in statischen Situationen ruhig zu bleiben
  • Verstärktes Redebedürfnis und schnelles Sprechen

Impulsivität:

  • Verkürzte Reaktionszeiten zwischen Reiz und Handlung
  • Schwierigkeiten beim Abwarten in sozialen Situationen
  • Spontane Entscheidungen ohne vollständige Konsequenzenabwägung

Wichtig: Diese Merkmale sind nur dann klinisch relevant, wenn sie in mehreren Lebensbereichen auftreten, über mindestens 6 Monate bestehen und zu signifikanten Funktionsbeeinträchtigungen führen. Viele dieser Merkmale können in bestimmten Kontexten auch adaptive Vorteile haben (erhöhte Kreativität, Flexibilität, Krisenmanagement).

ADHS im Kindesalter

Bei Kindern werden ADHS-Merkmale häufig in der Schule sichtbar, da das Schulsystem bestimmte Aufmerksamkeits- und Selbstkontrollmuster erfordert, die nicht allen Kindern entsprechen. Häufig beobachtete Merkmale sind:

  • Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitsregulation in reizarmen Unterrichtssituationen
  • Erhöhter Bewegungsdrang in statischen Lernumgebungen
  • Konflikte, die aus unterschiedlichen Arbeits- und Kommunikationsstilen entstehen

Eltern erleben ihre Kinder oft als sehr energiegeladen und kreativ, aber auch als herausfordernd in strukturierten Umgebungen, was zu beidseitiger Frustration führen kann – besonders wenn die Umgebung nicht auf verschiedene Lernstile eingestellt ist.

ADHS im Erwachsenenalter

ADHS-Merkmale bleiben meist lebenslang bestehen, zeigen sich jedoch in veränderten Formen:

  • Herausforderungen bei Zeitmanagement und systematischer Organisation
  • Schwierigkeiten in beruflichen oder privaten Beziehungen, die hohe Struktur erfordern
  • Überforderungsgefühle in unpassenden Arbeits- oder Lebensumgebungen

Die Hyperaktivität wandelt sich oft in innere Unruhe oder gedankliche Hyperaktivität um. Erwachsene mit ADHS haben ein statistisch erhöhtes Risiko für sekundäre psychische Belastungen wie Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen – meist als Folge chronischer Anpassungsschwierigkeiten an neurotypische Strukturen.

    Auswirkungen auf den Alltag und Begleitprobleme

    ADHS-Merkmale können erhebliche Auswirkungen auf den Alltag haben, besonders in Umgebungen, die nicht auf neurobiologische Vielfalt eingestellt sind. Bei Kindern entstehen häufig Schwierigkeiten in standardisierten Schulsystemen, Konflikte durch unterschiedliche Kommunikationsstile und familiäre Spannungen aufgrund unverstandener Verhaltensweisen. Bei Erwachsenen können Probleme in starren Arbeitsstrukturen, in Beziehungen mit hohen Organisationsanforderungen und Selbstwertprobleme durch chronische Anpassungsschwierigkeiten auftreten.

    Häufig entwickeln sich sekundäre psychische Belastungen (Komorbiditäten) wie Lernstörungen, Angststörungen, Depressionen, oppositionelle Verhaltensweisen oder Schlafstörungen. Diese Folgeprobleme entstehen oft durch chronischen Stress bei dem Versuch, in unpassende Strukturen hineinzupassen. Die Behandlung fokussiert daher primär auf diese sekundären Belastungen, nicht auf die ADHS-Merkmale selbst.

    Diagnose von ADHS

    Eine ADHS-Diagnose kann nur von qualifizierten Fachkräften (Fachärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, spezialisierte Psychotherapeuten) gestellt werden. Der diagnostische Prozess umfasst eine ausführliche Anamnese, systematische Verhaltensbeobachtungen und standardisierte Testverfahren.

    Entscheidend ist die Differentialdiagnose: ADHS-ähnliche Merkmale können auch durch Anpassungsstörungen, Traumafolgestörungen, Schilddrüsenerkrankungen oder andere Ursachen entstehen. Die Diagnose sollte nur gestellt werden, wenn die Merkmale funktionsrelevante Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen verursachen.

    Therapeutischer Ansatz bei ADHS-bedingten Belastungen

    Da ADHS selbst keine Behandlung benötigt, konzentriert sich die Therapie auf sekundäre psychische Belastungen und Anpassungsschwierigkeiten, die in unpassenden Umgebungen entstehen können.

    Logotherapie und Existenzanalyse: Die Logotherapie nach Viktor Frankl bietet einen besonders geeigneten Ansatz für Menschen mit ADHS. Während andere Therapieformen oft versuchen, ADHS-Merkmale zu „korrigieren“, erkennt die Logotherapie die einzigartige Wahrnehmungsweise als Teil der individuellen Persönlichkeit an.

    Neurobiologisches Verständnis kombiniert mit Sinnorientierung: Wenn Menschen verstehen, dass ihre intensivere Wahrnehmung, ihr Bewegungsdrang oder ihre schnelle Gedankengeschwindigkeit neurobiologisch begründet sind, können sie diese Merkmale wertschätzen statt bekämpfen. Die Logotherapie hilft dabei, einen persönlichen Sinn in diesen Besonderheiten zu finden – etwa die Fähigkeit zu kreativen Lösungen, die Gabe für Krisenmanagement oder die Begabung für multisensorische Wahrnehmung.

    Selbstwert und Identität stärken: Viele Menschen mit ADHS haben durch jahrelange Anpassungsversuche ein beschädigtes Selbstbild entwickelt. Die Logotherapie arbeitet daran, die authentische Identität wiederzufinden und Werte zu entwickeln, die der eigenen Natur entsprechen. Das Verständnis der eigenen Neurobiologie wird dabei als Ressource genutzt, nicht als Hindernis.

    Medikamentöse Unterstützung: Bei starken sekundären Belastungen kann eine medikamentöse Therapie sinnvoll sein, immer in Absprache mit Fachärzten und als unterstützende Maßnahme, nicht als Hauptbehandlung.

    Wie können Eltern helfen?

    Eltern spielen eine entscheidende Rolle dabei, ein Umfeld zu schaffen, in dem ihr Kind mit ADHS authentisch sein kann:

    Neurobiologisches Verständnis entwickeln: Verstehen Sie ADHS als neurobiologische Variante, nicht als Defizit. Informieren Sie sich über die Rechte Ihres Kindes in der Schule (Nachteilsausgleich) und setzen Sie sich für angemessene Strukturen ein.

    Passende Strukturen schaffen: Entwickeln Sie Routinen, die der natürlichen Arbeitsweise Ihres Kindes entsprechen – nicht standardisierte Abläufe aufzwingen. Manche ADHS-Kinder brauchen Bewegung beim Lernen, andere absolute Ruhe. Experimentieren Sie gemeinsam.

    Stärken erkennen und fördern: ADHS bringt oft außergewöhnliche Fähigkeiten mit sich: Hyperfokus bei interessanten Themen, kreative Problemlösungen, Empathie, Spontaneität. Fördern Sie diese natürlichen Talente statt nur „Problembereiche“ zu bearbeiten.

    Authentische Kommunikation: Erklären Sie Ihrem Kind seine neurobiologische Besonderheit positiv: „Dein Gehirn funktioniert anders – das bringt besondere Fähigkeiten mit sich.“ Vermeiden Sie pathologisierende Sprache.

    Schulkooperation mit klarer Haltung: Arbeiten Sie mit Lehrern zusammen, aber vertreten Sie die Bedürfnisse Ihres Kindes. Das Schulsystem muss sich anpassen, nicht umgekehrt.

    Eigene Haltung reflektieren: Arbeiten Sie an Ihrer eigenen Akzeptanz der ADHS-Merkmale. Kinder spüren, ob Eltern ihre Art als „Problem“ oder als „Besonderheit“ betrachten.

    Langzeitperspektive

    ADHS ist eine lebenslange neurobiologische Variante, die mit der richtigen Umgebung und Selbstakzeptanz zu außergewöhnlichen Leistungen führen kann. Viele erfolgreiche Menschen in kreativen, unternehmerischen oder krisenorientierten Bereichen zeigen ADHS-Merkmale.

    Der Schlüssel liegt nicht in der „Behandlung“ von ADHS, sondern im Aufbau eines Umfelds, das diese Funktionsweise wertschätzt und nutzt. Mit authentischer Selbstakzeptanz und passenden Strukturen können Menschen mit ADHS ihre einzigartigen Potenziale voll entfalten.


    Foto: https://adhshilfe.net/ads/

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