„Monanthropismus“: Die eine Menschheit
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„Monanthropismus“: Die eine Menschheit

Wann kommt doch die Zeit, und wo bleibt das Volk, das – so wie einst das Judentum der Welt den Monotheismus schenkte – in dessen notwendiger Ergänzung endlich der Menschheit den Monanthropismus gibt, den Glauben an die eine Menschheit? An eine Menschheit, die nur mehr eine Unterscheidung kennt: die Unterscheidung zwischen Menschen und Unmenschen!

(Viktor E. Frankl, Juli 1946)

Dieses Zitat von Viktor Frankl aus dem Jahr 1946 zeigt seine tiefe humanistische und ethische Überzeugung, die er in den Nachkriegsjahren formulierte – geprägt von seinen traumatischen Erfahrungen im Konzentrationslager und seiner Hoffnung auf eine bessere Welt. Es steht exemplarisch für Frankls Vision eines globalen Ethos, das die Würde jedes einzelnen Menschen anerkennt und über Trennungen hinweg eine einheitliche Menschheit schaffen will. Mehrere zentrale Gedanken und Dimensionen lassen sich aus diesem Zitat ableiten:

1. Der Begriff des „Monanthropismus“: Die eine Menschheit

Frankl knüpft mit dem Begriff „Monanthropismus“ an die jüdische Idee des Monotheismus an, die den Glauben an einen Gott als zentralen kulturellen und religiösen Beitrag versteht. Er sieht darin jedoch eine notwendige Ergänzung: den Glauben an die eine Menschheit. Der „Monanthropismus“ fordert eine Überwindung aller trennenden Kategorien wie Nation, Ethnie, Religion oder Klasse, um die Menschheit als unteilbare Einheit zu begreifen.

Dies steht in direktem Zusammenhang mit Frankls eigener Philosophie, in der er die Transzendenz betont: der Mensch ist auf etwas Höheres ausgerichtet – nicht nur auf Sinn, sondern auch auf die Gemeinschaft mit anderen. Der „Monanthropismus“ kann als ethisches Ziel einer Welt verstanden werden, die aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust lernen soll.

2. Die Unterscheidung zwischen „Menschen“ und „Unmenschen“

Frankl verweist hier auf eine moralische und ethische Unterscheidung, die den Kern seines Menschenbildes prägt: Die wahre Unterscheidung zwischen Menschen liegt nicht in äußeren Merkmalen oder kulturellen Kategorien, sondern in der Haltung und dem Handeln des Einzelnen. „Menschen“ handeln in Würde und Verantwortung, während „Unmenschen“ durch Grausamkeit und Missachtung der Menschlichkeit geprägt sind.

Diese Unterscheidung zeigt Frankls Glaube an die Verantwortung des Menschen: Freiheit ist immer mit Verantwortung gekoppelt. Ein Mensch wird Mensch in dem Maße, wie er sich für das Gute und Menschliche entscheidet. Frankl schreibt in „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“:

„Jeder von uns trägt in sich die Möglichkeit, Unmenschliches zu tun – und jeder trägt in sich die Möglichkeit, sich über das Unmenschliche zu erheben.“ (Frankl, 1982).

3. Die historische und moralische Dimension

Das Zitat entstand 1946, in einer Zeit, die von der Verarbeitung des Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt war. Frankls Forderung nach einem „Monanthropismus“ ist ein humanistisches Gegenmodell zur Ideologie der Entmenschlichung, wie sie im Rassismus, Antisemitismus und Totalitarismus jener Zeit gipfelte.

Frankls eigene Erfahrungen im Konzentrationslager, die er in „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ beschreibt, zeigen, dass er selbst im Angesicht des Leids an die Möglichkeit menschlicher Größe glaubte. Das Zitat ist nicht nur eine moralische Mahnung, sondern auch eine Vision für eine Welt, die aus der Vergangenheit lernt.

4. Die Verbindung zur Logotherapie

Die Logotherapie und Existenzanalyse basiert auf der Annahme, dass der Mensch nicht nur ein biologisches oder psychologisches Wesen ist, sondern ein geistiges, sinnorientiertes Wesen. Der „Monanthropismus“ könnte als Ausdruck dieser sinnorientierten Vision verstanden werden: Eine Menschheit, die sich nicht an trennenden Ideologien orientiert, sondern an der gemeinsamen Suche nach Sinn und dem Streben nach Würde.

Frankls Konzept der Selbsttranszendenz – also die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen und sich auf ein größeres Ganzes auszurichten – findet in diesem Zitat eine ethische Dimension: Die Selbsttranszendenz des Einzelnen wird zur Grundlage für eine transzendente Vision der Menschheit.

5. Aktualität und Relevanz

Das Zitat hat auch in der heutigen Zeit nichts von seiner Bedeutung verloren. In einer Welt, die weiterhin von Spaltungen und Konflikten geprägt ist, bietet Frankls Gedanke des „Monanthropismus“ eine ethische Orientierung. Es ruft dazu auf, die gemeinsamen Werte der Menschheit zu suchen und sich gegen alles zu wenden, was die Würde des Menschen untergräbt.

Die Unterscheidung zwischen „Menschen“ und „Unmenschen“ ist dabei keine biologische oder ideologische Klassifikation, sondern eine moralische Herausforderung: Sie ruft dazu auf, sich selbst kritisch zu hinterfragen und immer wieder bewusst für Menschlichkeit, Verantwortung und Sinn zu entscheiden.

Meine Einschätzung

Viktor Frankls Zitat über den „Monanthropismus“ ist eine kraftvolle humanistische Vision, die aus tiefster persönlicher Erfahrung und philosophischer Reflexion hervorgeht. Es fordert dazu auf, die Menschheit als Einheit zu begreifen und Verantwortung für das eigene Menschsein zu übernehmen. In einer Zeit, in der Spaltungen und Ideologien oft im Vordergrund stehen, bietet Frankls Botschaft eine zeitlose Perspektive auf die Würde und den Wert jedes einzelnen Menschen.


Literatur


Foto von Nicholas Green auf Unsplash

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