Positivitis – Wenn positives Denken toxisch wird
Die Epidemie der „Positivitis“
Unsere Gesellschaft hat sich einen regelrechten Kult um positives Denken aufgebaut – doch was passiert, wenn dieser Optimismus zur Pflicht wird? Eine unterschätzte Gefahr ist die „Positivitis“, eine übersteigerte, toxische Fixierung auf positives Denken, die echte Emotionen unterdrückt und Menschen in die Illusion drängt, dass negative Gefühle schlichtweg ignoriert werden sollten.
Dabei ist die menschliche Psyche nicht dafür gemacht, permanent im Hochgefühl zu schwelgen. Frustration, Trauer und Angst haben evolutionär eine Funktion – sie helfen uns, uns anzupassen, aus Erfahrungen zu lernen und unser Leben sinnvoll zu gestalten. Wer jedoch von „Positivitis“ befallen ist, glaubt, dass jedes Problem nur durch die richtige Denkeinstellung verschwindet. Das kann zu einer gefährlichen Verleugnung der Realität führen.
Das Geschäft mit toxischer Positivität
Die Self-Help-Industrie boomt, und mit ihr eine Flut selbsternannter „Life Coaches“ und „Positivity Trainer“, die mit simplen Parolen wie „Du musst es nur wirklich wollen!“ oder „Denk einfach positiv und alles wird gut!“ arbeiten. Auf Social Media kursieren Ratschläge, die oft weniger mit fundierter Psychologie als mit naivem Wunschdenken zu tun haben.
Viele dieser Angebote basieren auf einer simplifizierten Vorstellung des Lebens: Wer leidet, denkt einfach nicht positiv genug. Wer nicht erfolgreich ist, hat nicht genug manifestiert. Dass Lebensumstände, psychische Gesundheit und strukturelle Faktoren eine Rolle spielen, wird dabei konsequent ignoriert.
Tatsächlich zeigen Studien, dass übermäßiges positives Denken zu sogenannter emotionaler Unterdrückung führen kann, was langfristig Stress erhöht und das Wohlbefinden mindert. Menschen, die ihre negativen Emotionen verdrängen, laufen Gefahr, innere Spannungen aufzubauen, die sich in Depressionen, Angststörungen oder psychosomatischen Beschwerden äußern können.
Echter Optimismus vs. Scheinoptimismus
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen gesundem, realistischer Optimismus und toxischer Positivität. Während echter Optimismus darin besteht, Herausforderungen anzunehmen, sich seinen Gefühlen zu stellen und aktiv Lösungen zu suchen, führt Scheinoptimismus oft zur Vermeidung von Problemen und einer Flucht in unrealistische Hoffnungen.
Die Psychologie spricht hier von „Meaning Avoidance“ – der Vermeidung unangenehmer, aber sinnvoller Erfahrungen. Wer sich etwa nach einem beruflichen Rückschlag einredet, „Das Universum hat bestimmt einen besseren Plan für mich“, ohne aktiv neue Wege zu erkunden, beraubt sich selbst der Möglichkeit, aus der Situation zu wachsen.
Die Zukunft erschafft man heute – durch Sinn, Verantwortung und Handeln
Eine sinnerfüllte Zukunft entsteht nicht durch das bloße „Aussenden positiver Energien“, sondern durch konsequentes Handeln und bewusstes Gestalten des eigenen Lebens. Je sinnvoller und bewusster wir den heutigen Tag erleben, desto mehr Potenzial schaffen wir für eine sinnerfüllte Zukunft.
Hier kommt die Logotherapie ins Spiel: Viktor Frankl betonte, dass der Mensch nicht nur nach Glück, sondern vor allem nach Sinn strebt. Sinn lässt sich nicht einfach herbeidenken oder manifestieren – er entsteht durch unser Tun, durch die Übernahme von Verantwortung und durch den Mut, sich dem Leben in all seinen Facetten zu stellen.
Logokultur: Sinn statt Illusion
Die Logokultur setzt genau hier an: Sie fordert uns auf, nicht in der Illusion eines sorgenfreien Lebens zu verharren, sondern aktiv an unserer Zukunft zu arbeiten. Ein sinnerfülltes Leben entsteht nicht durch das Verdrängen negativer Emotionen oder das ständige Wiederholen positiver Affirmationen, sondern durch eine authentische Auseinandersetzung mit dem, was uns wirklich bewegt.
Die echte Kunst besteht darin, mit dem Leben in all seinen Höhen und Tiefen sinnvoll umzugehen – nicht darin, sich selbst in eine künstliche Dauer-Euphorie zu zwingen. Wer Sinn findet, braucht keine toxische Positivität. Er braucht nur den Mut, sich dem Leben so zu stellen, wie es ist – und es aktiv zu gestalten.
Bild von Robin Higgins