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Die Rolle von Achtsamkeit in der mentalen Gesundheit aus Sicht der Logotherapie und Existenzanalyse

In der heutigen, oft hektischen und reizüberfluteten Welt stellt sich für viele Menschen die Frage nach Sinn und Orientierung. Neben den äußeren Belastungen sind es häufig auch innere Konflikte und Sinnkrisen, die unser psychisches Gleichgewicht gefährden. Achtsamkeit hat sich als wirksame Methode zur Förderung der mentalen Gesundheit etabliert. Doch wie lässt sich Achtsamkeit im Kontext der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl verstehen und in den Alltag integrieren? In diesem Artikel werden wir auf die Verbindung zwischen Achtsamkeit und dem Streben nach einem sinnvollen Leben eingehen, wie es Frankl in seiner therapeutischen Praxis entwickelte.

 Achtsamkeit und Logotherapie: Der Blick auf den Sinn

Die Logotherapie nach Viktor Frankl betont, dass der Mensch vor allem ein Sinnsucher ist. Im Gegensatz zu vielen anderen psychotherapeutischen Ansätzen sieht Frankl die primäre Motivation des Menschen nicht im Streben nach Lust oder Macht, sondern im Streben nach Sinn (Frankl, 2011). In diesem Zusammenhang kann Achtsamkeit als Methode verstanden werden, die es ermöglicht, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – den Sinn des Augenblicks zu erkennen.

Achtsamkeit, die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments ohne Wertung, kann helfen, sich von Ablenkungen und sinnleeren Tätigkeiten zu befreien. Indem wir bewusst im Moment sind, öffnen wir uns für die Frage nach dem „Warum“ unseres Handelns und Lebens. So wird Achtsamkeit zu einem Instrument, das uns dabei unterstützt, die inneren Werte und Lebensbedeutungen zu erkennen, die uns aus der Sinnleere herausführen.

 Die „Trotzmacht des Geistes“ und Achtsamkeit

Ein zentrales Konzept in Frankls Lehre ist die „Trotzmacht des Geistes“. Frankl beschreibt damit die Fähigkeit des Menschen, sich selbst über seine Lebensumstände zu erheben, insbesondere wenn diese von Leid und Schmerz geprägt sind (Frankl, 2011). Auch in schweren Situationen behält der Mensch laut Frankl die Freiheit, eine innere Haltung zu wählen und Sinn im Leiden zu finden.

Achtsamkeit spielt hier eine wichtige Rolle: Durch die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks – auch wenn er schmerzhaft ist – ermöglicht sie es, Distanz zu den eigenen Emotionen und Gedanken zu schaffen. Dies erlaubt es, die Situation in einem größeren Kontext zu betrachten und neue Perspektiven zu entwickeln. So können selbst schwierige Erfahrungen eine tiefere Bedeutung erhalten, und der Mensch kann seinen Weg durch das Leiden hindurch zu einem tieferen Verständnis seines Lebens finden.

 Achtsamkeit als Mittel zur Selbsttranszendenz

Frankl betont in seiner Existenzanalyse immer wieder die Bedeutung der Selbsttranszendenz – das Überschreiten des eigenen Ichs in Richtung eines Ziels oder einer Aufgabe, die über uns selbst hinausgeht. Dies unterscheidet sich von einer auf das eigene Wohl fokussierten Perspektive, wie sie in manchen Formen der Achtsamkeitspraxis betont wird. In der Logotherapie geht es nicht darum, sich nur auf das eigene innere Erleben zu konzentrieren, sondern auch auf die Welt und die Mitmenschen um uns herum.

Achtsamkeit kann als Vorbereitung dienen, um die Aufmerksamkeit von den eigenen Sorgen und Ängsten weg und auf das „Sinnhafte“ im Leben zu lenken. Indem wir unsere innere Ruhe finden und die Selbstwahrnehmung schärfen, erkennen wir besser, wo unsere Verantwortlichkeiten liegen und wie wir sinnvoll auf die Herausforderungen des Lebens reagieren können.

 Praktische Achtsamkeitsübungen im Sinne der Logotherapie

Achtsamkeit im logotherapeutischen Sinn geht über das bloße Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment hinaus. Sie stellt die Frage nach dem „Warum“ und dem Sinn im Alltag. Hier sind einige achtsamkeitsbasierte Übungen, die Sie leicht in Ihren Alltag integrieren können, um das eigene Bewusstsein für Sinn und Zweck zu schärfen:

1. Sinnvolle Momente erkennen: Nehmen Sie sich jeden Tag ein paar Minuten Zeit, um über einen Moment nachzudenken, der für Sie heute bedeutungsvoll war. Dies könnte ein Gespräch mit einer geliebten Person, eine berufliche Aufgabe oder eine kleine Geste der Freundlichkeit sein. Diese Reflexion schärft Ihre Aufmerksamkeit für das, was in Ihrem Leben Bedeutung hat.

2. Achtsame Atmung mit Sinnfokus: Setzen Sie sich in Ruhe hin und konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem. Während Sie atmen, fragen Sie sich: „Was ist der Sinn dieses Moments?“. Die Antwort muss nicht sofort kommen, aber diese Frage lenkt den Fokus auf die größere Bedeutung Ihres gegenwärtigen Seins.

3. Dankbarkeit kultivieren: Achtsamkeit und Dankbarkeit sind eng miteinander verbunden. Nehmen Sie sich jeden Abend ein paar Minuten, um über die Dinge nachzudenken, für die Sie heute dankbar sind. Diese Übung fördert nicht nur ein Gefühl der Zufriedenheit, sondern stärkt auch Ihr Bewusstsein für die Sinnhaftigkeit im Alltag.

4. Achtsames Handeln: Üben Sie, alltägliche Aufgaben bewusst und mit einer sinnorientierten Haltung auszuführen. Stellen Sie sich bei jeder Handlung die Frage: „Was trägt diese Handlung zu meinem Leben und dem Leben anderer bei?“. So wird selbst das Einfachste zu einer Gelegenheit, Sinn zu entdecken.

 Die Rolle der Verantwortung in der Achtsamkeit

In der Logotherapie betont Frankl, dass der Mensch nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Welt verantwortlich ist. Achtsamkeit hilft uns dabei, diese Verantwortung klarer zu sehen. Wenn wir achtsam sind, nehmen wir unsere Handlungen bewusster wahr und erkennen, wie sie das Leben anderer beeinflussen. Diese Erkenntnis kann zu einer tieferen Verantwortung führen und uns helfen, sinnvollere Entscheidungen zu treffen.

Indem Achtsamkeit nicht nur auf das eigene Wohlbefinden, sondern auch auf das Wohlergehen anderer ausgerichtet wird, wird sie zu einem mächtigen Werkzeug, um die eigene Sinnorientierung im Alltag zu stärken.

Achtsamkeit im Kontext der Logotherapie und Existenzanalyse geht über die bloße Wahrnehmung des Augenblicks hinaus. Sie dient als Werkzeug, um den Sinn im Alltag zu entdecken und die eigenen Handlungen in einen größeren, bedeutungsvollen Zusammenhang zu stellen. Durch Achtsamkeit können wir lernen, selbst in schwierigen Situationen einen tieferen Sinn zu finden und uns über unsere Umstände zu erheben. In einer Welt, die oft von äußeren Ablenkungen und Oberflächlichkeiten geprägt ist, bietet die Praxis der achtsamen Sinnsuche einen Weg zu mehr innerer Erfüllung und mentaler Gesundheit.


 Quellen

– Frankl, V. E. (2011). *Man’s Search for Meaning*. Beacon Press.

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